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Abitur 2023

Lit. Erörterung »Sandmann«

18

 Jahre alt

Dezember 2021

Status:

Privat

Ort/Land:

Hameln

DE

Index-No.:

N° 

20P

 

005

Kategorie:

Text

Subkategorie:

Erörterung

<span class="article-kicker">Erörterung zu E.T.A. Hoffmann</span>

Literarische Erörterung zu E.T.A. Hoffmanns »Der Sandmann«

Die Erzählung »Der Sandmann« von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (E.T.A. Hoffmann), erstmals erschienen im Jahr 1812, ist als Werk der Schwarzen Romantik der Epoche der Romantik zuzuordnen. Der Schauerroman setzt sich mit den Motiven des Wahnsinns und des Fanatischen auseinander, die zur damaligen Zeit beinahe surreal erschienen und nichts Vergleichbarem zugrunde lagen. Die oben genannte These stellt infrage, ob das Werk für die heutige Jugend noch von Bedeutsamkeit ist.

In Anbetracht der Schnelllebigkeit, und unseres rasanten gesellschaftlichen wie technischen Fortschritts, hat der in Hoffmanns Werk thematisierte Aspekt des aufklärerischen Handelns an Bedeutung für jüngere Menschen verloren. Informationen sind für Kinder und Jugendliche heute in Sekundenschnelle digital verfügbar. Aufklärung findet im aktuellen Jahrhundert überwiegend durch Eigeninitiative statt und bleibt dabei jederzeit erhältlich und mobil. Eine Art „Aufklärung to-go“, so wie sie heute noch bei Kindern und Jugendlichen vorkommt.

Darüber hinaus ist der Aspekt der Schnelllebigkeit auch auf die Prägnanz aufklärerischer Aussagen zu beziehen, die für Kinder und Jugendliche immer extremer wird. Gemeint ist, dass Informationen möglichst kurz und einprägsam gefasst sein müssen, um das Interesse der heutigen Jugend zu erreichen. »Der Sandmann« erfüllt dieses Kriterium mit rund vierzig Seiten eher nicht und unterstützt damit die These, dass das Werk „für die heutige Jugend überhaupt keine Relevanz mehr“ hat.

Dem entgegen steht jedoch die eigentlich inhaltliche Intention des Werkes, die insbesondere die schizophrenen Züge des Protagonisten Nathanael und das damit verbundene Motiv einer endogenen Psychose beleuchtet. Innerhalb des Werkes verliert Nathanael oft den Bezug zur Realität, ohne dass er das selbst merkt oder reflektieren kann. Dieser Realitätsverlust stellt einen Indikator für Schizophrenie dar und kann durch weitere Vorkommnisse im Text belegt werden. So ist Nathanael unter anderem von festem Glauben an die von ihm beschriebenen Erlebnisse (vgl. Z. 391-399; Z. 572-573; Z. 652 ff.), hat ein durchgängig starkes Interesse an Mystik (vgl. Z. 90-94; Z. 193 ff.; Z. 800-803), steigert sich immer drastischer in der Bekundung seiner Ansichten und lässt nicht davon ab (vgl. Z. 194-210; Z. 623-630), ist aggressiv und unkontrollierbar (vgl. Z. 1050-1060; Z. 1146-1150; Z. 1157-1163) und mündet letzten Endes im Selbstmord (s. Z. 1174). Diese Indikatoren stellen ebenso typische Grundsymptome von  Schizophrenie dar und erlauben damit die Feststellung eines heutzutage allgegenwärtigen Krankheitsbildes.

In Bezug auf die heutige Zeit sind solche Wahnvorstellungen und damit verbundene Psychosen weitaus aktueller als zu Zeiten Hoffmanns, was insbesondere aus dem aufklärerischen Hintergrund von »Der Sandmann« resultieren mag. Seit 1990 stagniert der weltweite Anteil schizophrener Menschen bei rund 0,25% der Bevölkerung und ist damit allgegenwärtig. Auch medizinisch hat sich in den letzten 200 Jahren einiges weiterentwickelt, sodass solche Arten der Psychose medikamentös und therapeutisch gezielt behandelt werden können. Zu Zeiten Hoffmanns, im 19. Jahrhundert, nahm die Psychiatrie ihre Anfänge und war damit bei weitem nicht so entwickelt und gesellschaftlich akzeptiert wie heute.

Doch auch auf Ebene der Ursachen dieser Psychose lassen sich Verbindungen zur heutigen Zeit und Jugend schaffen. Nathanaels Wahnvorstellungen müssen auf einer oder mehrerer Ursachen aus der Vergangenheit beruhen. So lässt sich die These fassen, dass die fanatischen, schizophrenen Züge Nathanaels auf einer intuitiven Verknüpfung der Geschichte des Sandmanns mit Coppelius beruhen. Das Augenmotiv spielt dabei eine wichtige Rolle, weil es in diesem Kontext die Sensitivität und Verlustangst verdeutlicht, als die Kinderfrau Nathanael von der Geschichte des Sandmannes erzählt und sagt, dass er den Kindern „Händevoll Sand in die Augen“ werfe und „dass sie blutig zum Kopf herausspringen“ (vgl. Z. 65-72). Darüber hinaus hat der Tod des Vaters (s. Z. 261-262), den Nathanael mit Coppelius verbindet und diesem die Schuld zuweist (vgl. Z. 267-271), ein einschneidendes Erlebnis in Nathanael erzeugt (vgl. Z. 272-281).

Auch heute noch prägen Traumata in der Kindheit den weiteren Lebensweg und können ähnliche Psychosen wie bei Nathanael auslösen. Auch sexuelle Misshandlungen, Gewalt im familiären Umfeld und weitere Traumata zählen dazu, die innerlich lange nachfolgen und den Lebensweg Betroffener bestimmen. Ebenso können aber auch die der aktuellen Pandemie bedingten, gesellschaftlichen Einschnitte zu psychischen Erkrankungen führen, wie sie bei Nathanael auftreten. Durch das Stören regulärer Angewohnheiten kann sich das eigene Sein im negativen verändern und so auch zu Wahnvorstellungen führen.

Als relevanteste Verknüpfung zur heutigen Zeit ist jedoch das aufklärerische Denken Claras zu sehen. Claras rationale Denkweise zeigt sich erstmals in ihrem ersten Brief, als Reaktion auf Nathanaels Erzählungen seiner ersten Nachricht (vgl. Z. 313-316; Z. 319-321; Z. 349-355; Z. 561-562), die anstatt an Lothar fälschlicherweise Clara zugegangen war (vgl. Z. 287-289). Dort entgegnet sie Nathanael, dass „alles Schreckliche und Entsetzliche“ in seinem „Innern vorging, die wahre Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte“ (vgl. Z. 314-316), und beschreibt Nathanaels offensichtlichen Realitätsverlust folglich als „Phantom unseres eigenen Ichs“ (vgl. Z. 365). Clara stellt mit Ihrem „scharf sichtenden Verstand“ (vgl. Z. 528) den Gegenpol zu Nathanael und dar verkörpert gänzlich die Epoche der Aufklärung, die durch eine rein rationale Denkweise geprägt ist. Von Gedanken der Vernunft getrieben, versucht Clara Nathanael zur Realität zurück zu besinnen und schafft dies augenscheinlich auch einige Male (vgl. Z. 688-693; Z. 1104 ff.). Nathanael verfällt jedoch immer wieder in vergangene Wahnvorstellungen und wird „rückfällig“ (vgl. Z. 722 ff.; 1141 ff.), bis diese ihn sein Leben kosten (vgl. Z. 1174). Diese Rückfälligkeit Nathanaels mag seiner psychischen Krankheit zuzuschreiben sein, gegen die die Aufklärung jedoch kein Gegenmittel darstellt.

Inmitten einer weltweiten Pandemie ist das aufklärerische Denken aktueller denn je. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden von einem Teil der Gesellschaft geleugnet und führen zu einer emotional befangenen Sichtweise, die sich in diesem Fall jedoch lediglich durch Aufklärung zurück zur Realität führen lässt. Der Begriff der Aufklärung könnte auch abstrahierend mit dem Bildungsbegriff gleichgesetzt werden, unter dessen Vorwand die Mündigkeit eines jeden einzelnen Menschen erreicht wird.

Darüber hinaus lassen sich weitere Geschehnisse der heutigen Zeit mit der Person Nathanaels verknüpfen. So entsteht unter anderem ein geringeres Interesse an äußeren Einflüssen aufgrund des Eigensinnes von Jugendlichen in Phasen der Pubertät. Beispielsweise ist dafür die Sturheit von Jugendlichen gegenüber ihren Eltern zu erwähnen, wenn sie etwas entgegen der Vorstellung des Jugendlichen von ihm/ihr fordern. Hier lässt sich ein direkter Vergleich zu der aufklärerischen Position von Clara gegenüber Nathanael ziehen.

Alles in allem bestehen Argumente für und wieder die These, dass »Der Sandmann« „lediglich ein Werk seiner Zeit“ sei und „für die heutige Jugend keine Relevanz mehr“ hat. Durch die grundsätzlichen Lehren der Aufklärung, Psychologie und Romantik durch Hoffmann überwiegen jedoch die Argumente gegen die aufgestellte These. Die bei Nathanael zu erkennende Psychose mag in der damaligen Zeit ein Phänomen gewesen sein, heute sind psychische Erkrankungen jedoch aktueller denn je und fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Aber auch die aufklärerische Denkweise Claras findet sich heute, insbesondere bei Jugendlichen, wieder. So setzen sich Jugendliche politisch wie gesellschaftlich für eine bessere Welt ein, deren aktuelle Probleme unter wissenschaftlich, rational getriebenen Gedanken gelöst werden.

Da durch die These aber nicht eindeutig ersichtlich wurde, ob es sich um die Relevanz aus Sicht eines Jugendlichen, oder die Sicht eines Erwachsenen auf die heutige Jugend handelt, ist eine eindeutige Stellung zur These schwer zu formulieren.